“Man sollte NIE das Gesamtbild außer Acht lassen”

Ein Gedankenaustausch zum Thema ‘Maul’…

Die FEI hat ein Nasenriemen-Messgerät, einen Keil, eingeführt, das das Wohlergehen der Pferde verbessern und die Beurteilung der Nasenriemenspannung bei FEI-Veranstaltungen vereinheitlichen soll. Dieser Keil wird seit dem 1. Mai 2025 von Stewards bei FEI-Wettbewerben in allen FEI-Disziplinen eingesetzt. Über die eventuellen Auswirkungen und die Gefahr des Irrwegs – dressursport.kim im Gespräch mit dem Grand Prix-Ausbilder Wolfram Wittig

Wolfram Wittig
© www.sportfotos-lafrentz.de

dressursport.kim: Bei einem internationalen Dressurturnier nach dem 1. Mai waren auffällig oft Pferde zu beobachten, die mit teilweise geöffneten Mäulern durch die Prüfung liefen. Besteht da ein Zusammenhang? Bedeutet das, dass bisher viele Pferde zu eng ‚zugeschnürt‘ waren?

Wolfram Wittig: Es kann natürlich einen Zusammenhang gegeben haben. Gleichwohl – wir sprechen von einem Lebewesen und die Verantwortung der Kreatur gegenüber nimmt uns auch in die Verpflichtung, ein gewisses Zeitfenster einzuplanen. Ich kann nicht von heute auf morgen etwas ändern, man braucht Zeit, um das zu üben. Das ganze Umfeld: Pferd, Reiter, Richter, Zuschauer, Journalisten und Fotografen müssen einen Lernprozess in Kauf nehmen. Und man darf nicht unterstellen, dass vorher die Mäuler ‚zugeknallt‘ waren – das ist einfach nicht richtig. Die Zeit vor dem Tool war nicht verwerflich. Und ich möchte auch nicht dem Ruf folgen, dass die Stewards früher alles komplett falsch gemacht haben, deswegen braucht man jetzt ein Tool. Das ist für mich fast eine Entmündigung der Stewards. Wenn wir nur noch auf Messbarkeit hinauswollen, dann sind wir bald so weit, dass wir Schritt-, Tritt- und Sprunglängen messen, dann die Zentimeter vor der Vertikalen und dergleichen mehr. Mit reinem Messen werden wir den Pferden nicht gerecht. Man sollte NIE das Gesamtbild außer Acht lassen.

dressursport.kim: Du hast auch eine Meinung zu der Formulierung: ‚Das Pferd muss mit geschlossenem Maul kauen…‘

Wolfram Wittig: Das Pferd soll zufrieden kauen und der eine macht dabei das Maul weniger auf und der andere etwas mehr. Da ist es doch bitte den Fachleuten und deren Erfahrung überlassen zu beurteilen: ‚Der ist jetzt wirklich im Bereich des Sperrens und der andere kaut eben.‘ Was man bei dieser Betrachtung komplett außer Acht lässt, sind unsere Richtlinien für Reiten und Fahren. Da steht klar drin, dass das Kauen für das Pferd möglich sein soll!

 

Richtlinien Band 1:Ein Reithalfter bietet eine gewisse Begrenzung der Kieferbeweglichkeit, darf dies aber niemals völlig unterbinden. Damit das Pferd mit entspannter Zungenmuskulatur und geschlossenem Maul kauen kann, muss es genügend Spielraum für die Kieferbeweglichkeit haben.“

 

dressursport.kim: Durch das neue Tool werden doch einige Nasenriemen lockerer verschnallt als früher, aber das ist nicht direkt gleichzusetzen mit ‚pferdefreundlicher‘?

Wolfram Wittig: Es gibt Erfahrungswerte. Es gibt Pferde, die fühlen sich wohler, wenn der Nasenriemen lockerer geschnallt ist, und es gibt Pferde, die sich dann unsicherer fühlen. Pferde dürfen auch mal etwas das Maul öffnen. Wenn dann die Zunge mit hochgezogen wird, ist das etwas anderes. Aber einfach eine Schablone bei jedem Pferd anzulegen und zu wollen, dass bei jedem Pferd das Maul gleich aussieht – das ist falsch.

dressursport.kim: Was ist also Dein Tipp, wie geht man am besten mit dieser ‚Umbruchssituation‘ um?

Wolfram Wittig: Momentan liegt der Fokus nur auf dem Maul und man vergisst, dass hinter dieser acht bis zwölf Zentimeter großen Maulspalte sich auch noch 600 Kilogramm Pferd befinden. Man muss immer das Ganze sehen und nicht nur das Maul.