Genauer hingeschaut – der senkrechte Oberkörper!

Viele Reiter verfallen beim Aussitzen in eine leichte Rückneige. Aber: Die permanente Rückneige des Oberkörpers ist eine Sackgasse! Ein Gastartikel von Imke Schuon – Teil I.

Kaum ein Körperbereich ist für die Reiterei wichtiger und gleichzeitig funktionell so anspruchsvoll einzusetzen wie der Oberkörper. Aufrecht und gerade soll er sein, doch die Frage ist: „Was bedeutet überhaupt gerade und aufrecht“?
Die Literatur liefert zahlreiche Hinweise und Anweisungen: So soll der Oberkörper senkrecht sein und eine locker schwingende Mittelpositur ermöglichen. Das klingt schon mal gut – schauen wir uns allerdings in der Reiterwelt um, sehen wir zahlreiche unterschiedliche Interpretationen der senkrechten Oberkörperposition sowie der schwingenden Mittelpositur.

Um eine Diskussionsgrundlage zu schaffen, werfen wir einen kurzen Blick auf die biomechanischen Hintergründe.

Die Rumpfmuskulatur, als wichtiger „Beweger“ des Beckens, ermöglicht durch das antagonistische Zusammenspiel von Bauch- und Rückenmuskulatur ein unter dem Oberkörper frei schwingendes Becken.

In dieser Aussage steckt schon ein wichtiges Detail: um die freie Beckenschwingung zu ermöglichen, muss sich der Oberkörper in der Senkrechten befinden – also aufgerichtet sein.
Verlässt der Oberkörper auch nur geringfügig die Mitte, so übernimmt im Falle einer Rückneige die Bauchmuskulatur eine dauerhafte Haltefunktion, um den Oberkörper am Zurückfallen zu hindern. Im Falle einer Vorneige verhindert entsprechend die Rückenmuskulatur ein „nach vorne fallen“.

 

Befindet sich der Oberkörper in der Senkrechten, bedarf es einer verhältnismäßig
geringen abwechselnden Aktivität von Bauch- und Rückenmuskulatur (li.). Ist der Oberkörper zurückgeneigt, arbeitet die Bauchmuskulatur haltend.

 

Die Nachteile von Rück- und Vorneige liegen auf der Hand:
– Das natürliche Wechselspiel zwischen Bauch- und Rückenmuskulatur wird unterbrochen – beide Muskelgruppen arbeiten nicht im ökonomischen „Gegenspielerprinzip“.
– Die Muskelkräfte der Bauchmuskeln bei Rückneige und der Rückenmuskeln bei Vorneige sind wesentlich höher als bei senkrechter Oberkörperposition und verstärken häufig reiterliche Asymmetrien. Je mehr Kraft zum Einsatz kommt, desto stärker werden Bewegungsvorlieben genutzt und Schiefen entsprechend verstärkt.
– Ein koordiniertes Mitschwingen des Beckens wird erschwert.

Es ist eine häufig geübte Praxis den Oberkörper beim Reiten in permanent leichter Rückneige einzustellen. Reiter haben das Gefühl und auch die Erfahrung gemacht, dass sie in dieser Haltung leichter Aussitzen können.

Zwei vermeintliche Vorteile führen zu diesem Bewegungsbild:
– Stoßminderung -> durch die Rückneige des Oberkörpers geht der in der Abdruckphase des Pferdes nach vorwärts und aufwärts gerichtete Stoß des Trabs am Oberkörper des Reiters vorbei. Dies ist leichter zu kompensieren und stellt eine scheinbar günstige Lösung dar, um nicht geworfen zu werden.
– Die Bauchmuskulatur ist eine Haltemuskulatur –> im Alltag stabilisieren die Bauchmuskeln den Rumpf und werden im verhältnismäßig langsamen Atemrhythmus an- und abgespannt. Sie haben eher eine Haltefunktion, als dass sie schnelle „Beweger“ wären. Die Rückneige entspricht also eher ihrem Kontraktionstyp. Beim Aussitzen im Trab mit senkrechtem Oberkörper, muss die Bauchmuskulatur jedoch bis zu zwei mal pro Sekunde an- und entspannen.

Das Reiten mit zurückgeneigtem Oberkörper hat eine Reihe von gravierenden Nachteilen:
– Der Reiter sitzt immer verhalten und gegen die Bewegung – wie eine „permanente Parade“.
– Soll wirklich eine Parade erfolgen, so geht dies nur mehr über den Weg des Zügelanziehens.
– Damit der Reiter nicht nach hinten kippt, muss er sich entweder am Zügel festhalten oder mit den Oberschenkeln festklemmen. Störungen im Maul und fehlendes Mitschwingen des Beckens sind die Folge.

Die permanente Rückneige des Oberkörpers ist also eine Sackgasse, in der Entwicklung einer funktionellen Reittechnik.

Imke Schuon, geb. Schlömer

In Teil II beleuchtet Imke Schuon, warum ‘richtig sitzen’ eigentlich ‘richtig bewegen’ heißen müsste, wo beim Reiten ein ökonomischer Minipendel im Dauereinsatz ist und was es mit der ‘Arbeitsstellung’ der Bauchmuskulatur auf sich hat.

Über die Autorin:

Imke Schuon ist Physiotherapeutin, arbeitet in eigener Praxis und als Dozentin an der Physiotherapieschule der Universitätsklinik in Münster. Sie reitet seit ihrem zehnten Lebensjahr und entwickelt das Thema „Funktionelles Reitertraining“ gemeinsam mit Sportwissenschaftler Dr. Josef Kastner und Pferdewissenschaftlerin Marieke Trapp in einer Arbeitsgruppe (Kastnermotion) stetig weiter. Seit einigen Jahren gehört sie zum Trainerteam bei Riesenbeck International und arbeitet mit zahlreichen Reitern aus dem ‘großen’ und ‘kleinen Sport’ zusammen.

 

Wer sich noch mehr informieren möchte:

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• Fortbildungsmöglichkeiten:
„Funktionelles Training für Reiter“ im FobiZe Bremen und Kiel
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