Die tiefsten Geheimnisse der Grand Prix-Kür

Von ehrlicher Analyse bis Ohrwurm, von Chancen durch Schwierigkeiten, Übergänge und Kombinationen. Was ist was? Was zählt wie? Was passiert, wenn…? Und warum ein bisschen Risiko dazugehört – zum Start der neuen Weltcup-Saison das Experten-Interview mit Dressurrichterin Katrina Wüst.

Kür-Expertin Katrina Wüst

dressursport.kim: Kaum ein Richter (vielleicht sogar keiner) hat sich so intensiv mit dem Kürreiten beschäftigt wie Sie. Was macht eine gute Choreographie einer Grand Prix-Kür aus?
Katrina Wüst: Ganz wichtig ist für jede Kür, dass sie auf der Harmonie zwischen Reiter und Pferd aufbaut, d.h., dass der Reiter nie mehr fordert, als es das Pferd zu leisten vermag. In diesem Sinne muss auch die Choreographie gestaltet werden, denn sie ist eins der Herzstücke der künstlerischen Note. Dazu gehört erst einmal generell Kreativität, d.h. der Reiter sollte sich von der Pflichtaufgabe lösen und versuchen, ein paar neue Ideen umzusetzen – neue Linien, überraschende Übergänge, nicht immer die Abfolge Trab – Schritt – Galopp z.B. Dann natürlich auch eine gewisse Struktur, ein Highlight am Anfang, ein überzeugendes Finale am Schluss, um die Richter positiv zu stimmen, bevor sie die letzten Noten geben. Ein bisschen so, wie in anderen Kunstformen, im Theater, im Film oder bei einem Buch, das schon am Anfang einen gewissen Spannungsbogen aufbaut und damit zum Weiterlesen anregt. Natürlich auch eine gute Raumaufteilung, aber für mich ist zusätzlich ebenfalls entscheidend, dass der Reiter die Chance wahrnimmt, sein Pferd optimal zu präsentieren. Das bedeutet: Er sollte sein Pferd und sein eigenes reiterliches Können einer ehrlichen Analyse unterziehen, um zu sehen, was möglich ist, und wie er es am effektivsten präsentieren kann.
Ich finde es immer schade, wenn Reiter nicht die Gelegenheit ergreifen, die schwächeren Lektionen ihres Pferdes durch die geschickte Choreographie ihrer Kür etwas zu kaschieren. Ein Beispiel: Wenn man aus dem starken Galopp in die Pirouette geht, das Pferd sich aber nicht gut zurückführen und versammeln lässt, dann werden die Pirouetten oft riesig. Man ist dann besser beraten, die Kombination umzudrehen: Also aus der Pirouette in den starken Galopp, damit die Choreographie mit den Qualitäten des Pferdes übereinstimmt. Eine sehr schwierige Kombination ist beispielsweise auch der Übergang aus der Galopp-Pirouette in die Piaffe-Pirouette oder anders herum, aber sie muss eben auch gelingen.
Ich habe Hochachtung, wenn ein Reiter sich und sein Pferd so ehrlich analysiert, dass er die Schwächen erkennt und diese so in der Kür einbaut, dass sie möglichst wenig negativ auffallen. Noch besser wäre es allerdings, sie durch gutes Training ganz auszumerzen!

dressursport.kim: Der Schwierigkeitsgrad, seit einigen Jahren durch das DoD-System erfasst, das Sie mit Daniel Göhlen von Black Horse One entwickelt haben. Welcher Gedanke steckt dahinter?
Katrina Wüst: Die Grundidee hinter dem Schwierigkeitsgrad ist, dass – erstmals in der Dressurkür – dem Reiter ähnlich wie beim Eislaufen oder in der Gymnastik ein Katalog der Schwierigkeiten an die Hand gegeben wird, der für alle gleichermaßen gilt und damit objektivierbar wird – je nach Qualität der Ausführung. Dieses bedingungslose Bestehen auf der Korrektheit der Ausführung ist wichtig, damit nicht Schwierigkeit über Schwierigkeit angehäuft wird, ohne dass Reiter und Pferd es beherrschen und es übertrieben und ‘zirzensisch’ wird. Wichtig ist zu wissen: Man ist in jeder Kür an die Lektionen gebunden, die in der jeweiligen Klasse verlangt werden. Es gibt nur eine Ausnahme: die Grand Prix-Kür. Nur in der Grand Prix-Kür gibt es drei ‚extra-schwierige‘ Lektionen, die über das, was in der Grund-Aufgabe verlangt wird, hinausgehen. Das sind Piaffe-Pirouetten, Passage-Traversalen und Galopp-Pirouetten mehr als 360 Grad, aber maximal doppelt.

dressursport.kim: Es gibt – bezogen auf die Grand Prix-Kür – drei Möglichkeiten, im Schwierigkeitsgrad zu punkten. Welche drei sind das?
Katrina Wüst: Das sind einerseits die schon genannten ‚extra-schwierigen‘ Lektionen und weiterhin sind das 2. Übergänge und 3. Kombinationen. Bei den Übergängen werden immer verschiedene Gangarten miteinander oder mit dem Halten verknüpft. In der Grand Prix-Kür z.B. werden schwierige Übergänge im Zusammenhang mit GP-Lektionen gezeigt wie das Anpassagieren aus dem Halten, aus der absoluten Unbeweglichkeit sofort in die höchste Kadenz, oder umgekehrt aus einer fleißig abfußenden Piaffe ins sofortige und sichere Stehen in der Schlussaufstellung. Paraden aus dem starken Trab oder Galopp zum Halten werden mittlerweile kritisch gesehen – auf jeden Fall wünscht man sich hier, dass der Reiter nicht abrupt, sondern weich und etwas auslaufend pariert – zum Wohl der Pferdebeine!!

dressursport.kim: Gibt es ganz klare Spielregeln, wann beispielsweise das Anpassagieren aus dem Halten auch als schwieriger Übergang gewertet wird. Nach dem Motto: Es dürfen höchsten zwei Tritte dazwischen sein, bis das Paar wirklich in der Passage ist?
Katrina Wüst: Nein, das gibt es so nicht. Wichtig ist, dass der Richter das Gefühl hat, das Pferd kommt sofort, unmittelbar in die Passage. Ein, zwei Tritte bis zur voll kadenzierten Passage – das darf sein. Ich habe aber durchaus schon Pferde gesehen, die wirklich ‚zack‘ aus dem Halten in der Passage waren. Früher wurden häufig drei, vier, fünf Meter Anlauf dazu gebraucht. Das gibt es heute kaum noch. Das Reiten ist durch diese DoD-Anforderungen sehr viel präziser geworden. Nur wenn der Richter den Übergang als ‚schwierig‘ akzeptiert, wird er als solcher auch gewertet und bringt zusätzliche Punkte in der Schwierigkeit.

Das war Teil 1 des Experten-Interviews mit Katrina Wüst, morgen erscheint der zweite Teil. Was genau verbirgt sich hinter den ‚schwierigen Kombinationen‘? Welche ungeschriebenen Gesetze gelten? Welches sind die fünf Lektionen mit Schwierigkeits-Modifikator? Warum haben Serienwechsel eine Sonderstellung? Und weitere Tipps und Tricks – auch zur Musikwahl…