“…auch ich stehe dieser Note nicht unkritisch gegenüber.”

Die Präzisionsnote – beim CHIO Aachen im Test

Neu in diesem Jahr beim CHIO Aachen: Ein Pilotprojekt in der Dressur zum Thema `Präzisionsnote’. So wurde im Rahmen des CHIO Aachen 2024 mit Hilfe eines verbesserten Live-Trackings die Ausführung einzelner Lektionen wie beispielsweise Traversalen, Piaffen oder Pirouetten gemessen am Idealwert objektiv bewertet. Diese neuartige Technik befindet sich in einer Testphase und floß noch nicht in die Ergebnisse des Richtergremiums ein.
Dieses Pilotprojekt wurde in Zusammenarbeit mit dem CHIO Aachen von SAP und Black Horse One durchgeführt.

Beispiel für einen KI-erstellten Präzisionsbogen

Über erste Erkenntnisse des Pilotprojekts Präzisionsnote hat dressursport.kim mit Black Horse One Geschäftsführer Daniel Göhlen gesprochen:

dressursport.kim: Wie genau läuft das ‚Live-Tracking‘ ab?
Daniel Göhlen: Wir haben fünf Kameras im Aachener Dressurstadion aufgehängt, die das Pferd aus fünf verschiedenen Positionen beobachtet haben. Anhand dieser Informationen konnten wir sehr präzise bestimmen, wo das Pferd gerade ist – bis auf zehn Zentimeter genau. Diese Informationen wurden an einen Server übermittelt, der die Angaben ausgewertet hat.

dressursport.kim: Können Sie schon erste konkrete Erkenntnisse preisgeben? Beispielsweise an der Zick-Zack-Traversale?
Daniel Göhlen: Wir legen immer die Ideallinie zugrunde. Bei der Zick-Zack können wir sagen, dass 90 Prozent der Reiter, die Seitwärtsverschiebung nicht so weit reiten wie man es sich wünscht[DG1]. Ein weiteres Beispiel sind die Piaffen. Sie werden viel mehr im Vorwärts geritten als man erwartet hatte. Wenn die Piaffen wirklich auf dem Fleck gezeigt werden, wirkt es beim Betrachter fast so, als ob das Pferd zurücktritt. Die meisten Piaffen, die sehr gut auf dem Fleck wirken, sind etwa 40 bis 50 Zentimeter im Vorwärts. Ich denke, da muss man umdenken, was genau ‚auf dem Fleck‘ bedeuten soll. Noch ein Beispiel sind die Pirouetten. Wir haben in unserem Test hier in Aachen festgelegt, dass ein Meter Abweichung nach rechts und links von der Mittellinie erlaubt ist. Das schafft aber fast keiner, dieser eine Meter wird regelmäßig überritten und das bedeutet, dass die Pirouetten meistens größer als zwei Meter sind.

dressursport.kim: Und Sie haben noch ein ganz ‚banales Beispiel‘ für uns?
Daniel Göhlen: Jawohl, die Ecken. Das hat uns wirklich überrascht, wie lässig die Ecken abgerundet werden. Kaum jemand reitet wirklich in die Ecken. Wir haben zunächst zugrunde gelegt, dass die Reiter zwei Meter vor der Ecke vom Hufschlag abwenden und auch etwa zwei Meter danach wieder am Hufschlag ankommen – da lagen wir weit daneben. Aber es gibt auch keine genaue Definition, wie tief eine Ecke ausgeritten werden sollte.

dressursport.kim: Es drängt sich aus meiner Sicht ein wenig die Frage auf: Was genau wollen wir mit der Präzisionsnote erreichen? Besteht nicht eine Gefahr darin, dass wir unseren Eindruck, bzw. den Eindruck der Richter zu sehr von diesen messbaren Informationen abhängig machen?
Daniel Göhlen: Ich gebe zu, auch ich stehe dieser Note nicht unkritisch gegenüber. Ich fühle mich dem Sport verbunden und ich stehe in engem Kontakt mit sehr vielen Richtern, Reitern und der FEI. Es ist ein sehr großer Aufwand, dieses KI-System so weiter zu entwicklen und dann auch einzusetzen, dass es effektiv und präzise arbeitet. Das geht, keine Frage, aber es kostet sehr viel Geld. Ich denke, das Geld wäre in der Aus- und Fortbildung von Richtern noch besser angelegt. Die Beurteilung durch die Richter bleibt das Allerwichtigste, das System wird so wie es jetzt angedacht ist, nur eine weitere Schlussnote generieren. Das muss auch so sein, dass das Richterurteil vorherrschend bleibt. Aber: Eine Note von 35, wenn wir mal den Grand Prix nehmen, ist relativ irrelevant. Dafür ist meines Erachtens der Aufwand zu groß.

dressursport.kim: KI-Systeme zur Bewertung kennt man aber auch durchaus schon aus anderen Sportarten?
Daniel Göhlen: Natürlich, beim Turnen gibt es ein kamerabasiertes KI-System, dass die Winkel bei den Turnübungen der Athleten misst und auf dieser Basis wird eine Note gegeben. Früher haben diese Noten Menschen gegeben, aber inzwischen verlassen sie sich immer mehr auf diese kamerabasierten KI-Ergebnisse. Dieses KI-System kann Richter sicherlich auf Dauer ersetzen, auch wenn das so noch nie offiziell bestätigt oder erklärt wurde. Aber das ist natürlich eine ganz andere Ausgangsposition als beim Reiten. Es ist viel schwieriger, Pferde zu erfassen und Winkel zu messen. Jedes Pferd ist anders, ein Mensch ist von der Anatomie einfacher zu erfassen. Zudem: Auch Menschen entwickeln sich weiter, aber bei der Pferdezucht geht das in einem ganz anderen Tempo. Die Toppferde vor sechs bis sieben Jahren sahen anders aus als heute. Diese Pferde würden heute nicht mehr dieselben Noten bekommen, weil sich die Zucht und die Bewertungen verändert haben. Das KI-System bleibt aber auf dem Status Quo, in dem es gefüttert wurde, stehen. Wenn man die KI aktuell halten möchte, müsste man sie immer neu ‚füttern‘, dazu bräuchte man wieder Richter etc. Unter dem Strich bin ich Stand heute der Meinung: Es wäre noch ratsamer, all diese Bemühungen und das Geld mehr in die Ausbildung der Richter zustecken. Auch wenn ich den Wunsch nach noch mehr Objektivität in der Bewertung nachvollziehen kann.