“Jede Schraube, die auftaucht, wird gestellt.”

Seit den Olympischen Spielen 2008 ist Jonny Hilberath in die Betreuung der deutschen Dressur-Equipe eingebunden, seit Ende 2012 offizieller Co-Bundestrainer im Team mit Monica Theodorescu. 15 Jahre mit der deutschen Dressur-Equipe – dressursport.kim am Rande der EM im Gespräch mit Jonny Hilberath über ‚Hausbesuche’, Stellschräubchen, komplexeres Training, Flick Flack und ein erstes EM-Resümee…

dressursport.kim: Wie hat sich Deine Arbeit im Bundestrainer-Team über die Jahre verändert? Hat sie sich überhaupt verändert?

Jonny Hilberath: Das Training ist definitiv intensiver geworden. Die ‚Hausbesuche‘ sind häufiger geworden, die Reiter kommen auch auf eigenen Wunsch häufiger zu Monica oder mir für einige Tage, um gemeinsam zu trainieren. Sie möchten unser Wort und unser Auge, was uns das Arbeiten und Weiterentwickeln erleichtert. Dass diese Möglichkeiten bestehen, war vor 15 Jahren noch nicht so in den Köpfen der Reiter. Man kann heute fast sagen, dass man das ganze Jahr über an den Pferden und Reitern nah dran ist. Und wir nehmen, wenn wir zu den Kaderreitern fahren, auch schon die nachwachsenden Pferde mit ins Training, so dass wir auch die frühzeitig begleiten.

dressursport.kim: Für viele Reiter seid Ihr, das Duo Theodorescu und Hilberath, Heim- und Bundestrainer in einer Person?

Jonny Hilberath: Ja, das hat aber auch damit zu tun, dass sich viele Reiter ‚Spezialtrainer‘ zur Hilfestellung nach Hause holen, beispielsweise einen Spezialisten für die Handarbeit und bei ‚guckigen‘ Pferden für Horsemanship. Auch das hat sich viel weiter entwickelt. Das ganze Training ist viel komplexer geworden, es geht längst nicht mehr nur ums Reiten. Es geht um das ganze Management des Pferdes, um das sehr individuelle Eingehen auf die Pferde.

dressursport.kim: Die Arbeit vor Ort bei einem Championat, nehmen wir die EM jetzt hier in Riesenbeck, ist das noch im Endeffekt genau so wie vor 15 Jahren?

Jonny Hilberath: Nein. Wir gehen mit Reiter und Pferd deutlich individueller um. Früher war die Betreuung von Reitern und Pferden nicht so intensiv wie heute, das ist das eine. Und es gab straffere Vorgaben. Da wurde beispielsweise am letzten Tag im Trainingslager die Aufgabe geritten. Heute wird alles sehr individuell mit den Reitern abgesprochen, ob sie noch mal die Aufgabe – um bei diesem Beispiel zu bleiben – reiten wollen oder eher nicht. Es ist immer eine gemeinsame Entscheidung, was ich persönlich auch viel wertvoller finde. Es ist ein wirklicher Austausch da.

dressursport.kim: Stichwort komplexeres Training – spielt auch das Mentale eine größere Rolle?

Jonny Hilberath: Ja, auf jeden Fall. Wenn ich ein fein getuntes Pferd reiten möchte, dann muss ich als Reiter natürlich physisch und mental topfit sein. Man muss voll fokussiert sein, weil man gegebenenfalls in Millisekunden Entscheidungen fällen muss. In meinen Augen ist das Einbeziehen der mentalen Seite ein weiteres Potenzial, was früher noch nicht ausreichend genutzt wurde. Wir haben inzwischen einen Mental-Coach für das Team, aber viele Reiter haben auch einen persönlichen Coach, mit dem sie zusammen arbeiten. Jede Schraube, die auftaucht, wird gestellt.

dressursport.kim: Wie ist das bei Dir als Trainer, hast Du auch einen Mental-Coach.

Jonny Hilberath: Ich persönlich habe keinen Mental-Coach, aber ich spreche mit Menschen. Ich spreche sehr viel mit Monica, wir sind sehr vertraut über all die Jahre geworden, und ich spreche mit Außenstehenden, um mich ‚aus der Distanz‘ bewerten und beurteilen zu lassen.

dressursport.kim: Viele Reiter sprechen auch mit Dir…

Jonny Hilberath: Ja, weil ich weiß, wie wichtig es ist, in einer guten, gesunden und entspannten Atmosphäre zu arbeiten – auch und gerade auf einem Championat. Wir brauchen bei einem Championat niemandem ‚Feuer zu machen‘, das haben die alle von alleine. Aber das ruhige, sachliche Miteinander, das Unterstützende und Fördernde ist ganz wichtig. Das spiegelt sich insgesamt in der Art wider, mit der man heutzutage trainiert. Es ist noch konstruktiver geworden, für das Pferd und den Reiter. Wir fördern immer erst, bevor wir fordern.

dressursport.kim: Tragen zu dieser ruhigeren, konstruktiveren Art des Training auch die inzwischen weit verbreiteten Kommunikationssysteme bei? Nur so ist ja, rein von der Lautstärke her, Ruhe möglich.

Jonny Hilberath: Ja, unbedingt. Früher musste die Stimme laut sein, damit man gehört wurde. Das hatte schon etwas Aggressives in sich. Und es gab keine Austauschmöglichkeiten. Der Reiter konnte nicht reagieren und das war manchmal auch nicht gewünscht. In meiner aktiven Zeit wurde auf dem Pferd nicht gesprochen. Aber ich möchte als Trainer das Feedback des Reiters haben – nicht unbedingt während der Piaffe, aber dann direkt in der nächsten Schrittpause zum Beispiel. Die Kommunikationssysteme haben absolut zu einer anderen Art des Trainings beigetragen, im positivsten Sinne.

dressursport.kim: Wie sieht es mit den Anforderungen auf den Championaten, im Endeffekt Ziel Eurer Arbeit, aus, auch die haben sich verändert?

Jonny Hilberath: Die Anforderungen haben sich definitiv verändert, allein schon weil die Konkurrenz aus dem Ausland so viel stärker geworden ist. Deswegen ist es so wichtig, dass unser Team sehr offen für neue Trainingsvorschläge, Veränderungen und Erneuerungen ist und das macht die Arbeit für Monica (Theodorescu) und mich auch so effektiv. Wir haben neue Stellschrauben gefunden, die wir auch bedienen.

dressursport.kim: Was sind das für Stellschrauben, kannst Du uns ein Beispiel geben?

Jonny Hilberath: Es ist die Präzision, mit der man heute erfolgreich reitet. Es ist nicht so, dass man sich sagt: Ich setze mich jetzt mal still hin, halte die Hände schön still und reite dann erfolgreich Grand Prix. Man muss, um das erfolgreich performen zu können, die ganze Arbeit mit Pferden und Reitern darauf ausrichten: die Feinabstimmung, noch feinere Hilfen, reduziertes Reiten.

dressursport.kim: Bedeutet im Umkehrschluss, dass man vor zehn Jahren noch nicht so präzise geritten ist, wie heute?

Jonny Hilberath: Sagen wir, noch nicht so ausgefeilt. Die Pferde sind in den letzten zehn, 15 Jahren auch noch mal besser geworden. Wir hatten auch früher mit unserer Zucht schon gangstarke Pferde, aber das ist heute bei weitem nicht mehr ausreichend. Die Reittechnik wird heute mehr in den Vordergrund gerückt.

dressursport.kim: Drehen wir den Spieß um: Ist es vielleicht sogar von Vorteil, wenn das Pferd nicht allzu gangstark unterwegs ist, weil das sehr unaufwändige, hoch präzise Reiten dann einfacher ist?

Jonny Hilberath: Nennen wir es so: Das von Hause aus geschlossenere Pferd ist dem Pferd mit der ganz großen Übersetzung, dem ganz großen Rahmen gegenüber im Vorteil. Das ist wie bei Menschen. Wenn man einen schlaksigen großen Menschen ein Flick Flack turnen lassen möchte, das wäre sehr mühsam. Man braucht einen ganz anderen Typ, um Schnellkraft zu entwickeln.

dressursport.kim: Aber das ist unabhängig von der Größe?

Jonny Hilberath: Ich habe alle Größen geritten und bedient, die Körpergröße des Pferdes ist nicht das Entscheidende, sondern die Proportionen. Wenn man ein 1,80 Meter Pferd mit einem extrem langen Rücken hat, dann ist das natürlich schwieriger als bei einem gut proportionierten Pferd. Häufig geht es auch nicht um das Thema der großen Übersetzung, sondern um die Koordination. Es gibt Pferde, die kommen ins Viereck getrabt und können Verstärkungen und Traversalen zeigen, das ist gewaltig. Aber wenn es an die versammelten Lektionen geht, lässt die Arbeit in der Hinterhand nach. Dann kommt das Hinterbein nicht wirklich unter den Schwerpunkt zum Tragen. Das ist reine Physik, aber das macht am Ende die Qualität der Grundgangarten aus: Das geschlossene, unter sich fußende, springende Pferd.

dressursport.kim: Zum Abschluss – kurz vor der letzten EM-Prüfung: Wie war die Europameisterschaft 2023 aus Deiner Sicht?

Jonny Hilberath: Ich bin sehr happy, weil ich das Gefühl habe, dass die Arbeit der letzten Monate und das Trainingslager Früchte gezeigt hat. Ich weiß, wie das ist. Wenn man Zuhause ist, hat man den eigenen Betrieb, man hat Kunden, Familie, aber mit ein oder zwei Pferden einfach weg zu sein, das macht die Arbeit noch mal so viel qualitätvoller – das gilt für alle Reiter. Das Ergebnis ist manchmal frapierend.

Der unroutinierte Thiago, der als Seiteneinsteiger eingestiegen ist, hat sich in den Tagen vom Trainingslager bis jetzt krass, wirklich krass entwickelt. Bis zur letzten Mittellinie im Special habe ich gedacht: das hat Star-Qualität. Freddy hat auch noch mal die kleineren Stellschrauben verfeinert, er arbeitet sich prozentual kontinuierlich nach oben und das ist noch gar nicht fertig. Das Pferd hat zu noch besserer Selbsthaltung gefunden, dadurch noch mehr Schulterfreiheit bekommen und noch mehr bergauf entwickelt. Isabell mit ihrer Routine und Erfahrung hat auch, meine ich, in der Zeit des Trainingslagers und hier vor Ort an kleinen Schräubchen gedreht. Sie ist eine Bank für jedes Team, sie liefert immer wieder auf den Punkt ab. Wir sind mit Daleras Performance natürlich auch super zufrieden, aber es geht immer noch weiter und besser. Jessi ist so genau und präzise geritten wie immer, aber vielleicht mit noch etwas mehr Risiko. Durchlässigkeit, Harmonie, Selbsthaltung – davon ist nichts auf der Strecke geblieben, aber dazu ist noch etwas mehr Athletik gekommen.

Dieser Weg, der bei allen noch nicht zu Ende ist, das macht unsere Arbeit so spannend und das ist unheimlich motivierend.