“Der versammelte Schritt ist ein Stiefkind.”
Er ist mental und physisch eine Herausforderung: der versammelte Schritt – mit den Augen der Fünf-Sterne-Richterin Ulrike Nivelle.
(Foto: Ulrike Nivelle (re) am Richtertisch mit Schreiberin)
dressursport.kim: Angenommen Sie sitzen am Richtertisch bei einem Vier-Sterne-Turnier, die nächste Lektion ist der versammelte Schritt – worauf gucken Sie zuerst?
Ulrike Nivelle: Auf den Takt selbstverständlich! Die Schritte müssen kürzer werden, ab er ohne Verlust von Takt und Fleiß, das Pferd soll nicht langsamer werden, aber erhabener. Die Kruppe soll sich senken und vorne soll sich das Pferd ‚liften‘. Das Schwierige ist nicht zuletzt der Übergang vom starken zum versammelten Schritt. Für diesen Übergang muss das Pferd sehr durchlässig sein. Es muss in Genick und Ganasche zum Loslassen kommen, sich aufnehmen lassen und dieses Aufnehmen über die Oberlinie, Rücken und Hinterbeine durchlassen. Häufig passiert der Fehler, dass die Pferde beim Aufnehmen den Takt verlieren, weil sie die Paraden nicht durchlassen und der Rücken sich festmacht. Und schon ist die Fußfolge verschwommen oder geht ganz verloren.
dressursport.kim: Die Fußfolge – der Dreh- und Angelpunkt?
Ulrike Nivelle: An der klaren Fußfolge kann es schon mal hapern – ja. Wenn ich als Reiter das Pferd aufnehme und es wird in der Fußfolge taktunsicher oder verschwommen, dann müssen meine Alarmglocken angehen. Das ist dann eine Frage der Losgelassenheit und der Durchlässigkeit.
dressursport.kim: Die Schrittgröße – auch ein entscheidender Faktor…
Ulrike Nivelle: Ja, natürlich. Wenn ich ein Pferd mit sehr großem Raumgriff im starken Schritt habe, ist das Verkürzen der Schritte viel schwieriger, aber es ist machbar! Und wir, die Richter, müssen erkennen, ob das Pferd mit gekipptem Becken wirklich Last aufnimmt und sich versammeln lässt.
dressursport.kim: Sie hatten auch schon den Fleiß erwähnt…
Ulrike Nivelle: Manche Reiter reiten den versammelten Schritt nur langsamer, aber das ist dann kein versammelter Schritt. Der versammelte Schritt soll fleißig sein und Last aufnehmen.
dressursport.kim: Manchmal hat man allerdings den Eindruck, dass die Reiter, die den versammelten Schritt langsam reiten, mehr Punkte bekommen, als die die fleißig weiter reiten?
Ulrike Nivelle: Wenn einer fleißig reitet, aber das Pferd geht passartig, dann kriegt der selbstverständlich eine niedrigere Note als der langsamere, der im klaren Vier-Takt bleibt. Aber was wir feststellen müssen: Wir Richter halten uns oft im Bereich der 6 oder 7 auf. Selbst wenn einem durch den Kopf geht: ‚Oh, das ist aber ein guter versammelter Schritt‘ bleibt man trotzdem oft in diesem ‚sicheren‘ Bereich. Der Mut zur 8 oder sogar höher ist beim versammelten Schritt selten. Ich kann mich beispielsweise kaum erinnern, dass ich im versammelten Schritt mal eine 9 oder gar eine 10 gegeben hätte. Warum eigentlich nicht? Wenn ich als Richter erkenne, dass es bei dem versammelten Schritt an nichts fehlt, was diese Lektion ausmacht, dann muss ich in der Lage sein, die gesamte Notenskala zu nutzen – nach oben und unten, wenn er nicht gut ist. Wir müssen deutlicher abgrenzen: Die, die langsamer werden, kriegen vielleicht nur die 6,5, und die, die einen korrekten versammelten Schritt reiten, kriegen dann die 7 oder 7,5 – diese Differenz ist nicht hoch genug. Darauf müssen wir achten: Wir müssen deutlich differenzieren.
dressursport.kim: Woran liegt das? Ist der versammelte Schritt schwieriger zu beurteilen als beispielsweise eine Pirouette?
Ulrike Nivelle: Die Beurteilung ist sehr komplex. Man muss den Übergang beurteilen, die Fußfolge, den Fleiß, ob der im Genick loslässt, ob das Pferd über den Rücken durchlässt, Last aufnimmt – es sind wirklich viele Faktoren, die man in kurzer Zeit erkennen und bewerten muss. Es ist natürlich ein Leichtes ins Protokoll zu schreiben: ‚Noch mehr Fleiß‘ oder ‚noch mehr Erhabenheit‘, aber man muss sich auch schnell für eine konkrete Note entscheiden und dabei müssen wir die Breite der Notenskala mehr nutzen.
dressursport.kim: Was wäre Ihr Tipp an die Reiter, um mehr Punkte im versammelten Schritt zu bekommen?
Ulrike Nivelle: Was mir manchmal durch den Kopf geht ist, dass der Übergang vom starken zum versammelten Schritt zu wenig geübt wird. Das ist mühsam und die Pferde müssen durchlässig sein, sonst halten sie sich im Genick fest, gehen nicht über den Rücken und dann wird es kein guter versammelter Schritt. Es muss geübt werden und der Reiter muss sehr geschickt sein. Für mich ist es auch eine Frage der Gymnastizierung im Vorfeld. Der Gedanke im Training muss viel mehr sein: mehr über den Rücken, mehr gymnastizieren, auch rechts und links. Viele reiten nur von hinten nach vorne, aber denken nicht an die seitliche Gymnastizierung.
dressursport.kim: Ihr persönliches Fazit zum versammelten Schritt?
Ulrike Nivelle: Der versammelte Schritt ist ein Stiefkind, wir müssen über ihn noch mehr nachdenken, sprechen und differenzierter in der Bewertung werden.